Hier die dritte Kolumne «Gaa mer ETH» von Sven Krattinger:
Während ich wieder einmal meine Zugreise nach Zürich antrete, sehe ich vom Lorraine-Eisenbahnviadukt aus das Berner Münster, wie es vor den sonnenuntergangrot-getränkten Alpen aufragt. Ja, die Schweiz ist schön, denke ich mir dabei und muss schmunzeln beim Gedanken an eine Diskussion, die ich kürzlich hatte:
In einer hitzigen Diskussion hat ein Kollege von mir felsenfest überzeugt behauptet: «Züri isch de schönst Ort vor Schwiiz!» Zugegeben, meine morgendliche Fahrradfahrt am Bellevue entlang mit bestem Blick auf den Zürisee geniesse ich wirklich. Aber der schönste Ort der Schweiz? Bern, Freiburg und die Kaiseregg sind genauso schön!
Aber wenn man mit Zürchern über ihre Stadt diskutiert, endet dies gewöhnlich im Superlativ. Ginge es nach ihnen, wäre Zürich die schönste Stadt, hätte das beste Schulsystem und den besten Fussballclub sowieso – wobei letzteres diese Saison sogar stimmt. Diese Selbstsicherheit wird im Rest der Schweiz gewöhnlich als «Zürcher Arroganz» abgestempelt. In einem Land, wo Bescheidenheit und Zurückhaltung gelehrt und unsere Volkshelden für ebendiese Attribute verehrt werden, kommt Arroganz gar nicht gut an. Müssen wir uns über den Volksfrieden in unserem Land Sorgen machen?
Als Teilzeitzürcher und Sensler aus Leidenschaft versuche ich, meinen Teil dazu beizutragen und als Vermittler zwischen diesen beiden Kulturen zu agieren.
Zugegeben, auch ich war anfangs gar nicht erfreut, als ich auf mein freundliches «Grüessech» während meinen Wanderungen ein passiv-aggressives Schweigen als Antwort erhielt. Man sei sich aber bewusst, dass die Durchschnittszürcherin während einem normalen Arbeitstag wohl gegen tausend Leuten begegnet. Dass es einfacher ist, einander mit einem passiv-aggressiven Schweigen in der Tram anzustarren, als 1000-mal «Grüezi» zu sagen, ist irgendwo verständlich.
Mit «Grüezi» sind wir schon beim nächsten Punkt, auf den die Zürcher stolz sind: ihren wunderschönen Dialekt. Züridütsch gilt als das Schweizerdeutsch schlechthin. Für die Zürcher ist es so sehr der Standard, dass sie andere Dialekte schlichtweg gar nicht verstehen. Viele Nicht-Zürcher passen sich wohl oder übel dem Dialekt an – und bringen so unbewusst auch zahlreiche «Fremdwörter» in den Dialekt. Dies sorgt dafür, dass der Dialekt zwar als letztes auszusterben droht – gleichzeitig verliert er mit jedem neuen Ausdruck aber ein Stück Seele. Es handelt sich also quasi um eine Art Voldemort unter den Dialekten.
Wo ich die Seele in der Stadt Zürich ebenfalls vermisse, sind die zahlreichen Dorffeste. Zwar gibt es neben einem riesigen Angebot an Ausgangsmöglichkeiten auch das eine oder andere Stadtfest. Diese haben aber nicht den gleichen Charme. Sie können nicht nachvollziehen, wie es ist, auf einem «Grümpù» die Hälfte der Leute zu kennen; sich bei der Fasnacht im Winter zwischen dem letzten Bus um elf Uhr abends oder dem ersten um sechs Uhr morgens entscheiden zu müssen oder die Pflichtschicht hinter der Bar zu leisten, weil die eigene Pfadi damit Geld fürs Lager verdient. Dabei sind doch genau diese Erlebnisse die besten Jugenderinnerungen!
Summa summarum sollten wir das nächste Mal, wenn wir der Zürcher Arroganz begegnen, einfach ein bisschen Mitleid haben: Mitleid darüber, dass sie eine freundliche Geste wie das Grüssen einfach verlernt haben; Mitleid darüber, dass ihre Sprache sich leider immer mehr zum Bösewicht aus Harry Potter entwickelt; und nicht zuletzt Mitleid über die verpassten Erlebnisse der Stadtjugend.
PS: Beim vorangehenden Text handelt es sich um einen hundertprozentig subjektiven Sachverhalt ohne Garantie, dass sich darin auch objektive Elemente eingeschlichen haben. Sollte sich ein Städter dadurch angegriffen fühlen, so empfehle ich das erneute Durchlesen mit ein wenig Humor. Sollten Personen sich im Text wiedererkennen, so grüsse ich diese herzlich.
PPS: Ich danke allen Leserinnen und Lesern für das Interesse an meinen bisherigen Blogbeiträgen und für die lieben Kommentare. Jetzt geht es für mich erst mal in die Lern- und Prüfungsphase. Hoffen wir aufs Beste, damit ich auch weiterhin über Erlebnisse aus Zürich und der ETH berichten kann.